Nahezu alle schweren körperlichen Erkrankungen und Schädigungen können, indem sie direkt am Zentralnervensystem ablaufen oder seine Funktion indirekt beeinflussen, zu sogenannten "organischen Psychosyndromen" führen. Hierbei wird unter akuten und chronischen Formen unterschieden.
Der Begriff "Durchgangssyndrom" (gelegentlich auch "Funktionspsychose" genannt) kennzeichnet eine leichtere Form eines akuten organischen Psychosyndroms.
Es treten hierbei, vor allem im Rahmen schwerer Erkrankungen, eine Reihe unspezifischer, organisch bedingter psychischer Störungen zeitlich begrenzt auf. Sie bilden sich gewöhnlich in Stunden bis wenigen Tagen völlig zurück. Im Gegensatz zu den schwereren Formen des organischen Psychosyndroms sind Bewusstseinsstörungen beim Durchgangssyndrom jedoch nicht vorhanden.
Allerdings zeichnet es sich häufig durch den abrupten Wechsel von Stimmungen aus. Hierbei zeigen sich Episoden von depressiver und ängstlicher Verstimmung, aber auch plötzliche Stimmungsaufhellungen, Perioden von Antriebsstörungen oder großer innerer oder körperlicher Unruhe. Daneben sind häufig eine Verlangsamung des Denkens und eine Gedächtnisschwäche, v.a. bezüglich aktueller Ereignisse zu beobachten.
Schlafstörungen und schwere Alpträume beängstigen die Patienten. In einzelnen Fällen kann es, vorwiegend nachts, kurzzeitig zu Verwirrtheitszuständen mit optischen Halluzinationen (Wahnbildern) kommen, die sich in ängstlicher Unruhe zeigen. Gelegentlich ist hierbei auch die zeitliche Orientierung gestört oder Personen und Gegenstände werden nicht mehr richtig zugeordnet, ähnlich wie gelegentlich im Halbschlaf (z.B. wird ein Infusionsständer als eine Person wahrgenommen, u.ä.).
Aufgrund der für die Beteiligten meist nicht erklärbaren psychischen Erscheinungen und dem fast immer überraschenden Auftreten des Beschwerdebildes, kommt es oft bei Patienten und Angehörigen, und gelegentlich auch beim Klinikpersonal, zu starker Beunruhigung. Dabei ist das Durchgangssyndrom im Klinikalltag relativ häufig zu beobachten.
Bei ca. 10% aller körperlich Kranken, die sich in stationärer Behandlung - außerhalb psychiatrischer Fachkliniken - befinden, liegen bei genauer Diagnostik psychische Begleit- und Folgeerkrankungen im Sinne eines Durchgangssyndroms vor. Bei einer Untersuchung in Ulm (1974) wurde bei 123 Patienten einer internistischen Allgemeinstation 7,3% ein Durchgangssyndrom bzw. eine Funktionspsychose diagnostiziert. P. Götze beobachtete bereits 1980 nach Herzoperationen bei 30 - 50% der Patienten psychische Auffälligkeiten, wobei die Patienten während des ersten postoperativen Tages weitgehend psychisch unauffällig waren, dann jedoch am zweiten oder dritten Tag eine Verschlechterung ihres Befindens zeigten.
Häufigkeitsangaben in der Literatur sind oft sehr unterschiedlich. Eine eindeutige auslösende Ursache lässt sich meist nur schwer nachweisen. Es wurden aber Zusammenhänge zu bestimmten körperlichen Erkrankungen bzw. Medikamentennebenwirkungen beobachtet, so z. B. beim Ausfall einer Organfunktion (insbesondere der Nieren oder der Leber), bei Stoffwechselstörungen, schweren Operationen, wie Herzoperationen, Organtransplantationen, Unfällen, bei Narkosemitteln, Psychopharmaka, Kortison, Zytostatika, manchen Antibiotika, Diuretika, Herz- und Blutdruckmedikamente und anderem mehr.
Auch das Alter des Patienten ist zu berücksichtigen, da mit steigendem Alter eine rapide Zunahme des Durchgangssyndroms zu verzeichnen ist. Daneben wird das Auftreten auch von der Persönlichkeit und vom Lebensstil des Patienten beeinflusst. Insbesondere seine Fähigkeit mit bedrohlichen und beängstigenden Situationen umgehen zu können, seine aktuelle Lebenssituation, Alkohol- und Drogenkonsum, aber auch die soziale Unterstützung, die er durch Familie und Freunde während seiner Erkrankung erfährt, spielen dabei eine wesentliche Rolle [TAB ].
URSACHEN AKUTER ORGANISCHER PSYCHOSYNDROME (modifiziert nach Lipowski, 1980)
1999 wurden in Deutschland rund 750 Leber- und 500 Herztransplantationen durchgeführt. Über die Häufigkeit des Auftretens eines Durchgangssyndroms nach der Transplantation liegen für diese Patientengruppen zur Zeit noch keine eindeutigen Zahlen vor. Die wenigen vorliegenden Zahlenangaben schwanken stark, was sicher auch mit der Genauigkeit der Diagnosestellung zusammen hängt.
Wie schon zuvor beschrieben, ist die Ursache noch nicht völlig geklärt. In jedem Fall wird jedoch von vielfältigen verschiedenen Ursachen ausgegangen. Bei Patienten mit Herztransplantationen werden u.a. sowohl Mikroembolien als auch Komplikationen aufgrund von Durchblutungsschwankungen und Stoffwechselstörungen während der Operation, bzw. niedrigere Sauerstoffsättigung und Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt nach der Operation angenommen.
Bei Patienten mit Lebertransplantation sehen manche Autoren einen Zusammenhang mit dem Auftreten einer hepatischen Enzephalopathie (HE), bzw. eines sogenannten "Leberkomas", vor der Transplantation. Zwar sind die ersten Symptome der hepatischen Enzephalopathie denen des Durchgangssyndroms oft sehr ähnlich, die Schwere des Krankheitsbildes unterscheidet sich jedoch erheblich.
Während sich das Durchgangssyndrom rasch wieder zurückbildet, und zwar gewöhnlich ohne bleibende Schäden, handelt es sich bei der hepatischen Enzephalopathie um eine lebensgefährliche Komplikation der Lebererkrankung, wobei die Leberfunktionsstörung die Leistung des Gehirns bis hin zum tödlichen Koma einschränken kann.
Wie bereits erwähnt, deuten klinische Beobachtungen darauf hin, dass das Auftreten von Durchgangssyndromen mit den Veränderungen der Lebenssituation und der aktuellen Stresssituationen bei schweren Erkrankungen zusammenhängt. Insbesondere die Bedingungen, denen sich der Patient nach der lang dauernden Narkose vor allem in der Intensivstation ausgesetzt fühlt, können dazu beitragen, die Störung auszulösen.
Neben den nachwirkenden medikamentösen Einflüssen, spielen hierbei z. B. der Wechsel in eine unbekannte, bedrohlich wirkende Umgebung, der gestörte Schlaf- Wachrhythmus, der Verlust vertrauter Bezugspersonen, die soziale Isolation, der Mangel an Sinnesreizen und die länger andauernde Immobilisation eine Rolle. Auch der Informationsmangel des Patienten über seinen körperliche Zustand und die weiteren geplanten therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen können zur Beunruhigung beitragen.
Die Behandlung auf einer Intensivstation gibt vielen Patienten und deren Angehörigen ein Gefühl von Sicherheit und Schutz. Andererseits stellt die Intensivtherapie gleichzeitig eine Extremsituation dar, der sich die Patienten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Abwehrmechanismen und Anpassungsstrategien nicht gewachsen fühlen. Die Überwachungsgeräte werden einerseits als schützend, andererseits auch bei der geringsten Störung als bedrohlich wahrgenommen, vor allem dann, wenn nicht genügend Vorinformationen über die Funktion der Geräte gegeben wurde. Andererseits zeigt sich die Sicherheit gebende Funktion einer Intensivstation oft in der von vielen Patienten als beängstigend empfundenen Verlegung auf eine Allgemeinstation.
Da in einer Intensiveinheit die körperliche Problematik und Gefährdung jedoch im Vordergrund stehen, können die schweren Störungen des seelischen Gleichgewichts leicht übersehen werden. Um den Patienten in ihrer seelischen Not angemessen helfen zu können, ist es notwendig, seine Situation zu erkennen und seine Ängste nachvollziehen zu können. Nicht immer müssen Angst lösende oder beruhigende Medikamente verabreicht werden.
Dies sollte der Entscheidung des behandelnden Facharztes überlassen bleiben. Hilfreich sind jedoch in jedem Fall alle unterstützenden Maßnahmen, die es dem Patienten erleichtern, sich in dem für ihn fremden Umfeld zurecht zu finden. Dies bedeutet, dass für die Patienten die Umgebung möglichst wenig wechseln, sowie eine gut lesbare Uhr und eine Kalenders in Sichtweite sein sollten. Ausreichende Zuwendung und ein verständnisvoller Umgang tragen häufig schon zur raschen Besserung des Zustandsbildes bei. Hierbei können die Angehörigen das Pflegepersonal oft hilfreich unterstützen.
Ihre Anwesenheit kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dem Patienten - vor allem nach langer Narkose oder postoperativem künstlichen Koma - die Orientierung zu erleichtern und ihm in emotionaler Hinsicht Sicherheit und Halt zurück zu geben. Für die Angehörigen ist es dabei hilfreich sich bewusst zu machen, dass die Verarbeitung der überstandenen Operation und deren Folgen für die Patienten meist erst zu einem Zeitpunkt einsetzt, wenn sie selbst gerade beginnen, sich von ihren Ängsten etwas zu befreien.
Da letztendlich viele verschiedene Ursachen zur Entstehung eines Durchgangssyndroms beitragen können, wird es nicht immer möglich sein, alle relevanten Faktoren von vorn herein auszuschließen. Dennoch können Patienten, Angehörige und das Behandlungsteam einiges zur Verhinderung psychischer Störungen im Verlauf von schweren Erkrankungen beitragen.
Neben den schon oben erwähnten unterstützenden Maßnahmen, gilt es für Patienten Lebensstil und Belastung auf den körperlichen Zustand abzustimmen und die Zusammenarbeit mit dem behandelnden Ärzteteam zu intensivieren. Im Zusammenhang mit Lebertransplantationen bedeutet das vor allem, alle Substanzen zu meiden, die die Leber zusätzlich belasten.
Das sind insbesondere der Alkohol, aber auch übermäßige Eiweißzufuhr und - nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt - auch alle überflüssigen Medikamente. Untersuchungen von Lazarus und Hagens haben schon 1968 gezeigt, dass bei Patienten mit präoperativen Gesprächen und einer sorgfältigen postoperativen psychischen Betreuung nach Herzoperationen weit weniger häufig das Auftreten von Durchgangssyndromen beobachtet wurde, als bei einer Kontrollgruppe, die keine solche Behandlung erfahren hat. Hierbei erwies sich eine reine Informationsvermittlung nicht als ausreichend. Diese Erkenntnisse gilt es entsprechend auch auf alle anderen Patienten mit Organtransplantation zu übertragen.
Dabei kann es dem Patienten helfen, sich bereits vor der Operation aktiv sowohl mit seiner Erkrankung, als auch mit den bevorstehenden therapeutischen Maßnahmen auseinander zu setzen, um das neue Organ besser annehmen zu können und den Verlust des eigenen zu überwinden.
Er hat dann die Chance, evtl. auch gemeinsam mit seinen Angehörigen, seine Ängste und Unsicherheiten kennen zu lernen, Fragen zu stellen und neue Krankheitsbewältigungsstrategien zu entwickeln. Dies gibt ihm seine innere Sicherheit zurück und vermindert das Gefühl des "Ausgeliefertseins". Hierbei sollte dem Patienten (und auch seinen Angehörigen) bei Bedarf eine psychotherapeutische Fachkraft zur Verfügung stehen, die ihn auch während des Klinikaufenthaltes und nach der Transplantation unterstützend begleiten kann.
Dr. med. Dipl. Psych. Brigitte Schlehofer
Medizinische Universitätsklinik
Abt. Innere Medizin II (Allgemeine Klinische und Psychosomatische Medizin), Leiter: Prof. Dr. Wolfgang Herzog
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Lebertransplantierte Deutschland e.V.
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